Zu Besuch bei Nino in Georgien

In der Nähe der georgischen Stadt Sighnaghi kümmert sich Nino um ihren kranken Vater. Beide leben von seiner Altersvorsorge in ärmlichen Verhältnissen.

Nino spricht mich an, als ich vor ihrem Garten vorbeispaziere. Sie bittet mich zum Eingang des Hauses über eine kleine Terrasse, wo es neben einem Waschplatz für Kleider und Geschirr einen Holzschuppen für Feuerholz und allerlei Sonstiges hat. Sie setzt Wasser für Kaffee auf und bietet mir frische Apfelschnitze an. Wir sitzen an einem Tisch auf viel zu kleinen Stühlen an der Frühlingssonne.

Nino erzählt mir von ihrem Leben. Studium der englischen Literatur in der Hauptstadt Tiflis, Auslandaufenthalte, erfolgreich im akademischen Umfeld und bei verschiedenen Lehrtätigkeiten. Durch die Krankheit ihres Vaters muss sie ihre Stelle aufgeben, um ihn zu pflegen. Umzug von Tiflis ins Elternhaus nach Sighnaghi, wo die Stellensuche in ihrem Fachgebiet aussichtslos ist. Sighnaghi. Ein Städtchen mit knapp 1500 Einwohnern, rund 120 km östlich der Hauptstadt. Investitionen in die Erhaltung der Stadtmauern bringen die erhofften Touristen. Sighnaghi hat sich als „Stadt der Liebe“ in den vergangen Jahren zu einem Magnet für Heiratsfreudige entwickelt. Im Rathaus kann man sich daher auch 24/7 vor malerischer Kulisse vermählen lassen. Das Kloster in unmittelbarer Nähe der Stadt wurde auf dem Grab der heiligen Nino errichtet, die das Christentum nach Georgien brachte. Die heilige Nino also als Namensgeberin für meine Gastgeberin.

Da Nino in der Provinz-Stadt, die von diesem Tourismusboom profitiert, keine Stelle finden kann, leben sie und ihr Vater von dessen Altersvorsorge, welche rund 160 Georgische Lari also in etwa 65 Schweizer Franken beträgt. Selbst der beste Lebenskünstler hätte Mühe, das Leben mit diesem Betrag zu bestreiten. Schon das Feuerholz für den Holzofen, der neben dem Bett des Vaters steht, frisst einen grossen Teil dieser Altersvorsorge auf. Zieht man davon noch die für den Vater notwendigen Medikamente ab, bleibt nicht mehr viel übrig. Mit ihren Sprachkenntnissen versucht Nino in der Hochsaison die spärliche Unterstützung des Staates als Touristenführerin etwas aufzubessern.

Im Haus ist es dunkel und stickig. Der Vater sitzt hustend neben dem Holzofen. Überall stapelt sich Zeitungspapier. Der Kalender an der Wand ist eine Dekade alt. 2008 – Kaukasuskrieg. Ob das damit zusammenhängt? Ich frage nicht nach. Das Bild der verstorbenen Mutter steht andächtig auf dem Bücherregal. Daneben eine verdorrte Zimmerpflanze. Alles wirkt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der Rundgang durch das kleine Haus ist schnell gemacht und stimmt nachdenklich.

Meine Marschrutka zurück nach Tiflis fährt. Ich verabschiede mich von Nino und ihrem Vater. Ob ich ihnen etwas Geld für Medikamente da lassen würde?

Eine Geschichte, die in Georgien oft vorkommt und den Stadt-Land-Graben veranschaulicht. Leichten wirtschaftlichen Aufschwung und Wachstum des Tourismus im ganzen Land. Aber auch eine Konzentration von gut ausgebildeten Fachkräften, wie auch sonst der Grossteil der Bevölkerung, in den städtischen Ballungsräumen. Rund ein Drittel der georgischen Gesamtbevölkerung leben mittlerweile in der Hauptstadt Tiflis. Was auf dem Land zurückbleibt, sind die benachteiligten Gruppen, die sich nur schwer von selbst aus dieser Lage befreien können.